Grundlagen von Somatic Experiencing
Tiere erleben Stress ohne Trauma. Warum ist das so? Alle Säugetiere, auch der Mensch, verfügen über eine äußerst effektive Überlebensstrategie: die Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion. In lebensbedrohlichen Situationen stellt ihr Organismus schlagartig die notwendige Energie zur Verfügung. Diese Strategie hat sich in der Evolution bewährt.
Die Fight Flight Freeze Response besteht aus drei Phasen:
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(engl. Flight Fight Freeze Response) (Zittern, Vibrieren, Schütteln und tiefe spontane Atmung) |
Energie bereitstellen
Eine Gefahrensituation kann schlagartig eintreten. Sei es durch einen überraschenden Angriff aus dem Hinterhalt oder die Notwendigkeit einer Flucht. Innerhalb von Millisekunden werden Stresshormone ausgeschüttet und der Organismus befindet sich in Alarmbereitschaft.Kampf und Flucht
Die bereitgestellte Energie wird für Kampf oder Flucht verwendet.Erstarrungsreaktion
Wenn ein Kampf aussichtslos und eine Flucht unmöglich ist, erstarrt das Tier. Es fällt „wie tot“ zu Boden. Totstellreflex bzw. Schreckstarre sind Zustände völliger Bewegungsunfähigkeit. Sie haben in der Evolution einen Vorteil, weil manche Fressfeinde primär auf die Bewegung des Beutetieres reagieren. Auch kann es geschehen, dass der Fressfeind abgelenkt wird und das gejagte Tier in dieser Zeit aus der Erstarrung erwacht und flieht.Energie entladen
Ist das Tier wieder in Sicherheit, entlädt es die überschüssige Energie durch verschiedene Reaktionen wie Zittern, Vibrieren, Schütteln und tiefe spontane Atmung. Danach kehrt es zu seiner Herde zurück, als wenn nichts gewesen wäre. – Es bleibt kein Trauma zurück.
Warum Menschen im Trauma stecken bleiben
Im menschlichen Organismus laufen diese drei Phasen wie bei den Säugetieren ab. Jedoch sind wir durch unsere denkende Großhirnrinde in der Lage, die dritte Phase – also die Entladungsphase – in unserem Körper zu unterbrechen. Damit wird die Selbstregulation unseres Körpers gestört. Wir unterdrücken das Zittern Vibrieren, Schütteln und auch die spontanen tiefen Atemzüge, weil diese heftigen autonomen Reaktionen uns verunsichern. Die Intensität der Überlebensenergie in uns ängstigt uns, sodass wir versuchen, diese zu kontrollieren und auf ein erträgliches Maß abzusenken.
Durch Unterbrechung der Entladungsphase bleibt der Körper physiologisch stecken. Das ist so, als ob das Gaspedal bei Vollgas klemmt. Was geschieht dann? Die Energie bleibt im Körper, sie wird nicht abgebaut. Dies kann zu verschiedensten Symptomen führen wie Schlafproblemen, Herzproblemen, Verdauungsproblemen, Atemproblemen, Nervosität, emotionalen Problemen, kognitiven Problemen, Verhaltensproblemen.
In diesem englischen Video zeigt Peter Levine, was im Körper mit der Traumaenergie passiert.
Biologische Vervollständigung
Hatten Sie z.B. einen Autounfall, so ist in Ihrem Körper die Erinnerung an die Bewegung gespeichert, wie Sie mit Ihrem Arm den Aufprall abwehren. Ihr Körper ist in dieser „unvollständigen“ Bewegung stecken geblieben, was zu Symptomen z.B. in der Schulter führt.
In der Somatic Experiencing® Session führen Sie nun in vielen kleinen Schritten diese Armbewegung „bis zum Ende“. Sie vervollständigen also die Armbewegung und damit die autonome Selbstschutzreaktion Ihres Körpers. Dies wird auch als „biologische Vervollständigung“ bezeichnet. Dadurch kann Ihr Körper die seit dem Trauma angestaute Überlebensenergie entladen. Auf diese Weise können Sie die Erfahrung neu integrieren, das heißt: Sie bewegen sich von der Fragmentierung zur Integration. Ihr System wird aus der Erstarrung erlöst und kann sich so besser selbst regulieren. Durch die Selbstregulation steigt seine Resilienz, was bedeutet, dass Sie in Zukunft die „Härten des Alltags“ besser abfedern können.
Das Besondere an Somatic Experiencing
In vielen Therapieformen müssen Sie das traumatische Ereignis nochmals erzählen und nochmals durchleben. Es werden Regression und Katharsis angestrebt. Diese Methoden haben sicher ihre Berechtigung, können jedoch im Falle eines Traumas für Sie als Klienten äußerst belastend sein und dann zur Retraumatisierung führen. Aus der Ansicht heraus, die Vergangenheit entscheide darüber, wer Sie in der Gegenwart sind, wird Ihrer Vergangenheit viel Aufmerksamkeit gewidmet.
Somatic Experiencing sagt, dass die Vergangenheit durchaus nicht unsere Gegenwart bestimmt. Was unser gegenwärtiges Erleben negativ beeinflusst, ist vielmehr das Fortbestehen von Überlebensstrukturen aus der Vergangenheit und die dadurch bedingte Desorganisation im gegenwärtigen Nervensystem, was wiederum zur Verzerrung der Identität führt.
Somatic Experiencing nimmt immer Bezug auf den gegenwärtigen Moment und zwar durch das Spürbewusstsein (engl. felt sense). Indem wir achtsam im Hier und Jetzt unsere Sinneseindrücke wahrnehmen, erreichen wir eine Selbstregulation des Nervensystems. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir besser in Kontakt mit dem Sein kommen und uns wieder lebendiger fühlen. Dem Somatic-Experiencing-Ansatz zufolge kann die heilende Regulierung dann vollständig eintreten, wenn Sie in Kontakt mit sich selbst und Ihrem Körper sind – und wenn Sie in Beziehung zu anderen sind.
„Indem wir lernen, Körperempfindungen zu erkennen und zu ihnen in Kontakt zu treten, nehmen wir die Verbindung zu unseren instinktiven Ursprüngen im Reptiliengehirn auf. Für sich genommen sind Instinkte nichts weiter als Reaktionen. Doch wenn diese Reaktionen durch unser gefühlsbetontes Säugetiergehirn und unsere typisch menschlichen kognitiven Fähigkeiten ergänzt werden, erleben wir die Fülle unseres evolutionären Erbes … Ohne die intakte Verbindung zu unseren Instinkten und Gefühlen können wir unsere Verbundenheit mit der Erde, mit unserer Familie und mit der gesamten Existenz nicht spüren. Hierin liegen die Wurzeln des Traumas.“
Peter A. Levine, Trauma-Heilung: Das Erwachen des Tigers
Ein lesenswertes Buch zum Thema ist:
Peter A. Levine,Trauma Heilung – Das Erwachen des Tigers 265 S., 20,50 €, Synthesis, ISBN 978-3922026914 (die englische Ausgabe, Waking the Tiger – Healing Trauma)
Mit diesem Buch ist Peter Levine berühmt geworden. Er zeigt dem Leser sehr ausführlich, warum es so wichtig ist, den Fokus auf Sinneseindrücke zu richten. Er schlägt einen weiten Bogen zur Neurobiologie und erklärt, warum Tiere in freier Wildbahn kein Trauma erleiden. Aus diesen Erkenntnissen hat er in 30 Jahren klinischer Erfahrung die körperorientierte Somatic-Experiencing-Methode entwickelt. Diese wird im Buch anschaulich beschrieben.
Bei Fragen stehe ich Ihnen gerne in meiner Praxis in München oder Berlin zur Verfügung. Hier finden Sie die Kontaktseite.